Faires Open Access braucht Redaktionen: Gegen die technokratische Vernachlässigung von Redakteur*innen in der Debatte um Not-for-Profit Open Access

Faires Open Access braucht Redaktionen: Gegen die technokratische Vernachlässigung von Redakteur*innen in der Debatte um Not-for-Profit Open Access

Die Autor*innen sind aktive Mitglieder des scholar-led.network und setzen sich damit gemeinsam und kollaborativ für eine von Großverlagen unabhängige, nicht profitorientierte Publikationskultur jenseits von APCs und BPCs ein.

Ein frischer Wind weht durch die Open-Access-Welt: Diamond statt APC, öffentliche Infrastrukturen statt Transformationsvertrag. Eine erfreuliche Entwicklung für das wissenschaftsgeleitete Publizieren, bei der es jedoch eine gravierende Leerstelle gibt.

Wie ist es zu diesem Umschwung in der Open-Access-Debatte gekommen? In den letzten Jahren wurden erhebliche Mittel investiert, um Wissenschaftsverlagen den Übergang zum Open Access Publishing schmackhaft zu machen. Doch in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und unter Open-Access-Expert*innen wächst die Kritik:  Transformationsverträge resultieren in den wenigsten Fällen in einer tatsächlichen Transformation der beteiligten Zeitschriften zu Full Open Access (Farley et al., 2021; Ghamandi, 2020; Kiley, 2024; Nous, 2021). Die DEAL-Verträge stabilisieren die Marktmacht der Verlagskonzerne; ob sie zu nachhaltigen Kostensenkungen führen, bleibt dabei offen (Brembs et al., 2023a). Zu der daraus erwachsenden Frustration gesellen sich zunehmende Sorgen um die digitale Souveränität der Wissenschaft (Saunders, 2023). Dass Verlagskonzerne “science tracking” betreiben und als Datenhändler agieren (Altschaffel et al., 2024; Beetham et al., 2022; Clark, 2016; Holzer, 2022; Pooley, 2022; Siems, 2022; 2023), gewinnt durch den zunehmenden Einsatz künstlicher Intelligenz im Publikationswesen (Wood, 2024) weiter an Brisanz.

Auch zentrale Akteur*innen wie die cOAlition S, der Rat der Europäischen Union und einige deutsche Wissenschaftsorganisationen greifen diese Problembeschreibung in aktuellen Statements auf und nehmen dort einen alternativen Weg des Open-Access-Publizierens in den Blick: nicht-profitorientiertes Open Access Publishing in der Hand der Wissenschaft, bei dem wissenschaftliche Publikationen mithilfe öffentlich geförderter Open-Access-Infrastrukturen für Leser*innen und Autor*innen gebührenfrei sind.

Diese Entwicklung ist aus Sicht des scholar-led.network folgerichtig und begrüßenswert. Als Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen, die Publikationsprojekte unabhängig vom herkömmlichen Verlagswesen in kollaborativer, wissenschaftlicher Eigenregie betreiben, freuen wir uns, dass die in unseren Communities entwickelten und erprobten Modelle zukünftig breit gefördert und adaptiert werden sollen, wie wir es 2021 im scholar-led.network-Manifest (scholar-led.network, 2021) gefordert haben. Als Expert*innen für wissenschaftsgeleitetes, nicht-kommerzielles Publizieren sehen wir jedoch auch die Lücken in der aktuellen Diskussion. Diese fokussiert primär auf technische Fragen nach neuen Publikationsplattformen für Open Access und plädiert für das Aufbrechen etablierter Peer-Review-Strukturen (Brembs et al., 2023b). Diese neuen Ansätze orientieren sich oft an einem Wissenschaftsverständnis, das in den quantitativ arbeitenden Forschungsfeldern (STEM) verbreitet ist. Dabei wird jedoch oftmals übersehen, dass wissenschaftliches Publizieren, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, ein zutiefst sozio-technischer Prozess ist.

Die zentrale Schwachstelle liegt aus unserer Sicht darin, dass die Aufgaben von wissenschaftlichen Redakteur*innen und Herausgeber*innen weitestgehend ausgeblendet wird. Zur Erinnerung: Wissenschaftliche Redakteur*innen organisieren die Qualitätssicherung. Sie entscheiden über Desk Rejections, um Qualität zu sichern und das Peer-Review-System zu entlasten. Sie wählen Reviewer*innen aus und bewerten mögliche Befangenheiten. Sie sichten die Kommentare der Gutachter*innen, unterstützen Autor*innen dabei, Hinweise produktiv umzusetzen, und prüfen abschließend, ob Beiträge den Qualitätskriterien entsprechen. Darüber hinaus engagieren sie sich für die Akquise von Beiträgen, die Entwicklung neuer Formate und die Beratung von Nachwuchswissenschaftler*innen. Wissenschaftliche Redakteur*innen müssen fachlich versiert und gut vernetzt sein, um diese Aufgaben zu erfüllen. 

Bei wissenschaftsgeleiteten Publikationsorganen jenseits etablierter, kommerzieller Verlage kommen weitere Aufgaben hinzu: Die Tätigkeit von Redakteur*innen erfordert ein umfassendes Verständnis von Publikationsinfrastrukturen. Sie müssen die spezifischen Prozesse ihres Publikationsorgans in digitalen Redaktionssystemen abbilden, auftretende Fehler erkennen und Autor*innen und Gutachter*innen bei der Arbeit mit dem Redaktionssystem unterstützen. Redaktionen verwalten die Budgets der Diamond-Open-Access-Projekte, werben Mittel ein und koordinieren die Zusammenarbeit mit Infrastrukturanbieter*innen und externen Dienstleister*innen. Sie diskutieren intern über die Vorgehensweise bei Retractions und entscheiden selbst über publikationsethische Standards, wobei sie die spezifischen Erfordernisse des eigenen Fachs berücksichtigen. Angefangen von der Klärung juristischer Fragen über die Auseinandersetzung mit neuen, experimentellen Formen des Publizierens im Digitalen bis hin zum zielgruppenspezifischen Marketing fallen Aufgaben in ihren Arbeitsbereich, die in kommerziellen Verlagen arbeitsteilig organisiert werden. Wissenschaftsgeleitete Publikationsprojekte übernehmen diese selbst, denn dies füllt mit Leben, was wir mit “wissenschaftsgeleitet” meinen. Die Betreiber*innen technischer Open-Access-Infrastrukturen in den Bibliotheken und neue, nicht-kommerzielle Universitätsverlage unterstützen hier unter anderem mit Leitlinien und Beratung, haben aber in der Regel nicht das Mandat oder die Ressourcen, sich um alle anfallenden Aufgaben zu kümmern. 

Dass dieses vielfältige Aufgabenspektrum und die zentrale Rolle der Redaktionen in vielen der aktuellen Debattenbeiträgen komplett ausgeblendet werden, ist kein Zufall. Gute und faire Redaktionsarbeit lässt sich nur begrenzt “outsourcen” oder wie bereitgestellte Soft- und Hardware “skalieren”. Es müssen Lösungen gefunden werden, diese Arbeit unter den aktuellen, immer prekärer werdenden Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens mit befristeten Stellen und unsicheren Karriereverläufen zu organisieren. Es braucht akademische Freiräume innerhalb vergüteter Stellen und Anreizsysteme, damit es sich lohnt, sich in einer Redaktion zu engagieren und Kompetenzen aufzubauen. Nur so können diese Kompetenzen auch durch Networking, Kollaboration und nicht-kompetitiven Wissensaustausch weitergegeben werden, so dass sich wissenschaftliches Publizieren als dezentrales Netzwerk weiterentwickeln kann – ein Ansatz, den Adema/Moore, 2021 mit dem Konzept “scaling small” beschrieben haben. Diese Herausforderung ist komplex und wird in unterschiedlichen Disziplinen unterschiedlich beantwortet werden müssen. Wer nicht-profitorientiertes Open Access Publishing in der Hand der Wissenschaft fordert, muss sich dieser Frage jedoch über kurz oder lang stellen, denn Autor*innen und Gutachter*innen interagieren nicht nur mit Infrastrukturen. Sie interagieren hauptsächlich mit Menschen.

Aktuell klafft eine große Leerstelle, die nicht dadurch gefüllt wird, dass immer mehr Wissenschaftsorganisationen und wissenschaftspolitische Akteur*innen betonen, dass Gelder aus dem Erwerb in die Förderung von Open-Access-Publikationsinfrastrukturen verlagert werden sollen. Selbstverständlich sind Redaktionssysteme, Repositorien, Preprint-Archive und grundlegende Infrastrukturdienste wie Crossref und DataCite von zentraler Bedeutung für ein wissenschaftsgeleitetes Publikationssystem. Im Vergleich dazu mag jede einzelne der 246–298 primär in Deutschland angesiedelten Diamond-Open-Access-Fachzeitschriften zwar, wie in der Studie zur “Kartierung und Beschreibung der Open-Access-Dienste in Deutschland” beschrieben, “weniger systemischen Charakter haben” (Biela/Stalla/Hohmann/Holzer, 2024, 10). Sie alle zusammen und die Menschen, die sie betreiben, sind jedoch gerade durch ihre Pluralität für das Publikationssystem überaus systemrelevant. Auch ein “large-scale open access research publishing service” (Rat der Europäischen Union, 2023), wie er dem Rat der Europäischen Union vorschwebt, wird die notwendige Transformation nicht befördern, wenn nicht aktive Redaktionskollektive ihn mit Leben füllen. Und auch die im Plan-S-Proposal “Towards Responsible Publishing” (Stern et al., 2023) vorgeschlagene Neudefinition der Redakteur*innenrolle wirkt zu kurz gedacht. Danach sollen Redakteur*innen die Entscheidungsmacht über die Veröffentlichung an die Autor*innen abgeben (Prinzip 1), jedoch weiterhin Begutachtungsprozesse organisieren. Welche Anreizsysteme für wissenschaftliche Redaktionen in diesem System greifen, lässt der Vorschlag jedoch offen.

Aus Sicht des scholar-led.network sind Vorstöße, die das Problem auf die Bereitstellung von primär technischer Infrastruktur verkürzen und One-Size-Fits-All-Lösungen ohne die hinreichende Berücksichtigung disziplinärer Diversität präsentieren, technokratische Nebelkerzen. Ein Systemwechsel wird ohne qualifizierte wissenschaftliche Redakteur*innen nicht funktionieren. Daher ist es höchste Zeit, dass deren Arbeit anerkannt und vergütet wird (siehe dazu auch jüngst Adema/Moore, 2024) – was beispielsweise durch eine sinnvolle Einbettung in eine grundlegende Reform der Personalstrukturen im deutschen Hochschulwesen erfolgen könnte. Verschiedene Vorschläge dazu existieren bereits beispielsweise im Kontext der #IchbinHanna-Initiative (siehe bspw. Bahr, 2023), leider ist jedoch seitens der Hochschulpolitik sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene bisher wenig Bereitschaft hin zu einer dringend nötigen Implementierung erkennbar.


Literatur


Dieser Beitrag ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (CC BY 4.0).


Titelbild: Nic McPhee, Titel: 2008-01-26 (Editing a paper) - 14, CC BY-SA 2.0, Via Flickr https://flic.kr/p/4zGJzN


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